Thamara
Thamaras Geschichte
Mein Leben mit einem Angsthund
Ein Hund aus dem Tierschutz ist nicht immer unproblematisch. Oft ist die Vorgeschichte nicht bekannt, so dass man nur aus dem Verhalten der Tiere Rückschlüsse ziehen kann. Wenn man Informationen über die Vergangenheit des Tieres hat, sind einige Dinge im Vorfeld bekannt und man kann sich bestimmte Verhaltensweisen erklären – das heißt aber nicht, dass der Umgang mit dem Tier deswegen leichter wird. Man weiß nur, warum der Hund evtl. so reagiert – nur was macht man dagegen?
Jeder Hund ist anders und reagiert unterschiedlich. Es kann sein, dass ein sogenannter Problemhund bei einem Halter sehr auffällig ist und dass der gleiche Hund in einem anderen Zuhause keinerlei Auffälligkeiten zeigt. Was bei einem Tier hilft, kann beim anderen kläglich versagen. Es führen bekanntlich viele Wege nach Rom – die Kunst ist es, den richtigen zu finden – und das gestaltet sich nicht immer einfach, weil viele Komponenten eine Rolle spielen.
Für mich definiert sich das Wort Problemhund folgendermaßen: Wenn mein Hund ein Verhalten zeigt, dass nicht den allgemeinen Erwartungen an einen gut erzogenen Hund entspricht, das ich nicht akzeptieren will und dass sich nicht abstellen lässt, dann liegt ein Problem vor.
Natürlich muss man zwischen leichten und schweren Problemen unterscheiden. Wenn mein Hund z.B. einen ausgeprägten Jagdtrieb zeigt, die Wohnung demoliert oder einfach nicht stubenrein wird, ist das sicher anders zu bewerten, als wenn er alles Essbare vereinnahmt.
Wenn er starkes Angstverhalten in für uns normalen Situationen zeigt, kann das unsere Lebensqualität erheblich einschränken, ein hohes Maß an Organisationstalent erforderlich machen und es kostet teilweise wirklich Nerven. Der Schweregrad eines Problems bemisst sich daran, wie der Hundehalter das beurteilt und empfindet. Was für den einen unerträglich ist, ist für den anderen eine Lappalie.
Ängste können sich auf vielfältige Art und Weise äußern: Angst vor Geräuschen, Angst vor neuen Situationen, Angst vor Menschen, Angst vor Gegenständen oder Angst vor anderen Hunden. Einen Hund, der sich mal bei einem Knall erschreckt, würde ich nicht als Angsthund bezeichnen – wenn sich dieses Verhalten aber manifestiert und er bei jedem Geräusch zusammenfährt, dann bezeichne ich das als Angst. Dabei denke ich z.B. an Silvester – viele Hundehalter denken in den Tagen vor dem Jahreswechsel mit Grausen daran, wie ihre Vierbeiner damit klarkommen. Es werden leichte oder schwere Beruhigungsmittel mit mehr oder weniger Erfolg verabreicht, es wird ein Desensibilisierungsprogramm gestartet und einige Leute fahren mit ihren Tieren weg, um dem Lärm zu entkommen. Das Ziel ist immer das gleiche: es dem Hund und sich selber zu ermöglichen, möglichst stressfrei mit diesen Angstsituationen klarzukommen. Silvester ist nur einmal im Jahr, es dauert vielleicht ein paar Tage, bis der Hund sich wieder beruhigt hat, in den meisten Fällen war es das dann – bis zum nächsten Mal.
Schlimmer ist es, wenn der Hund in alltäglichen Situationen Angst zeigt. Ich denke da z.B. an Angst vor Menschen. Meist kennt man Hunde, die freudig auf einen zulaufen, wenn man sie ruft. Die sich gerne streicheln lassen und Vertrauen zum Menschen haben. Mit diesen Hunden kann man einen Stadtbummel machen und auch wenn man Besuch bekommt, verhalten sie sich ganz normal. Bei einem Hund aus dem Tierschutz kann das ganz anders aussehen. Hier muss man unterscheiden, ob man einen Hund aus dem Inland hat, oder ob er aus dem Ausland kommt. Bei einem Hund aus dem Inland, kann man in der Regel davon ausgehen, dass er weiß, wie ein Leben in Wohnung oder Haus aussieht. Bei einem Hund aus dem Ausland, der evtl. auf der Straße gelebt hat und misshandelt wurde, kann das ganz anders aussehen. Dieser Hund ist wahrscheinlich nicht stubenrein, kann keine Treppen steigen, und ist es nicht gewöhnt, im Auto mitzufahren usw. Er wird die ganz normalen Geräusche, die zu unserem alltäglichen Leben gehören, zuerst nicht kennen.
Diese Tiere sind an unser Leben nicht gewöhnt und müssen viele neue Dinge lernen. Meistens haben sie keine guten Erfahrungen mit Menschen gemacht und müssen jetzt lernen, dass es auch Menschen gibt, vor denen man keine Angst haben muss. Einige Exemplare gewöhnen sich schnell ein, andere brauchen mehr Zeit und einige wenige haben ein großes Problem damit, sich anzupassen. Dabei spielt das Alter des Hundes keine Rolle, sondern es kommt auf die Erfahrungen, die der Hund gemacht hat, an.
Hier ist es hilfreich, wenn man ein bisschen über Hundeverhalten und -körpersprache Bescheid weiß. Eine Möglichkeit ist es, die Situationen, in denen der Hund Angstverhalten zeigt, zu vermeiden. Ich selber halte das aus verschiedenen Gründen nicht für sinnvoll. Es ist nicht immer möglich diesen Situationen aus dem Weg zu gehen und wenn man dann in der verzwickten Lage ist und nichts daran ändern kann, sind Hund und Halter oftmals überfordert und die Situation kann eskalieren. Besser finde ich es, wenn man sich den Situationen, in denen das Tier Angstverhalten zeigt, immer wieder stellt und dem Hund die Möglichkeit gibt, sich daran zu gewöhnen. Dabei sollte man darauf achten, das Tier nicht zu überfordern. Lieber langsam anfangen und steigern, als zu übertreiben. Eine Überforderung kann das Tier wieder zurückwerfen und man steht wieder ganz am Anfang der Bemühungen und muss noch langsamer vorgehen, damit die Übungen sich verfestigen können.
Wichtig ist es, dem Hund das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Es wäre falsch, den Hund in den Arm zu nehmen und zu trösten – auch bloßes Ansehen oder Ansprechen sollte vermieden werden - damit bestätigt man u. U. sein Verhalten und signalisiert, dass das in Ordnung ist. Ich versuche immer möglichst gelassen zu sein, Ruhe auszustrahlen und neue Situationen so anzugehen, als ob es das Normalste in der Welt ist. Das gestaltet sich nicht so einfach, wie es sich liest – die Hunde merken ganz genau, wie uns zumute ist und reagieren entsprechend. Aber mit ein bisschen Übung kriegt man das ganz gut hin.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich gewonnen habe ist, dass man sich von den bisherigen Erfahrungen, die man gemacht hat, lösen können muss. Dass man gut beobachten sollte und sich auf gar keinen Fall scheuen darf, Hilfe anzunehmen und zuzugeben, dass man so nicht weiterkommt.
Ich selber habe eine Galga aus Spanien, die heute 3 ½ Jahre alt ist und seit 2 ½ Jahren bei mir lebt. Hunde begleiten mich seit meinem 6. Lebensjahr und das sind jetzt immerhin über 35 Jahre. Ich selber hielt mich für hundeerfahren und dachte, dass mich so schnell nichts umwirft – was sich als Irrtum herausstellte. Natürlich hatte ich Erfahrung mit Hunden, nur die half mir gar nicht, weil ich immer Welpen hatte, bzw. Tiere, denen nie etwas Schlimmes widerfahren war – ein problematisches Tier war nie dabei.
Bei Thamara sah das ganz anders aus. Sie war ungefähr einen Monat bei mir, als sie vermittelt wurde und war von Anfang an ängstlich und hatte kein Vertrauen zu Menschen. Ich erzählte den neuen Besitzern alles, was ich über diesen Hund wusste und wies darauf hin, dass sie sehr aufpassen müssten, weil der Hund sich aufgrund seiner Ängste nicht so schnell eingewöhnen würde. Es war für die Leute kein Problem, sie meinten, sie hätten schon Windhunde von einer anderen Organisation gehabt und wüssten wie das ist. An einem Freitagabend holten sie Thamara ab und riefen mich Samstagabend an und teilten mit, dass der Hund seit dem Morgen verschwunden ist. Es stellte sich heraus, dass sie den Hund zusammen mit der 13-jährigen Tochter auf den ersten Spaziergang geschickt hatten – der Hund hatte nur ein Halsband um und das war auch noch zu weit. Thamara hatte sich erschreckt und machte einen Satz rückwärts, dabei streifte sie das Halsband über den Kopf und lief weg. Entgegen meinem Rat hatten sie Thamara nicht doppelt gesichert. Mit einer doppelten Sicherung meine ich ein Halsband und ein Geschirr. Ein Galgo kann ein wahrer Entfesselungskünstler sein und schlüpft recht schnell aus Halsband und/oder Geschirr, wenn man nicht aufpasst.
Wir haben den Hund drei Tage lang gesucht, bis wir sie endlich fanden. Sie war in einem erbärmlichen Zustand – von dem schönen Hund, den ich übergeben hatte, war nicht mehr viel zu sehen. Sie hatte die ganzen Tage wohl nichts gefressen und auch nicht ausreichend getrunken. Dazu kamen viele Verletzungen und Schrammen. Ich nahm Thamara wieder mit nach Hause und beschloss, dass sie bei mir bleiben sollte.
Die ersten Tage schien alles ok zu sein und Thamara zeigte keine Auffälligkeiten. Ich konnte sehen, dass sie sich wohlfühlte und zufrieden war und ich freute mich, dass sie ihr Abenteuer gut überstanden hatte. Und dann ging es los. Aber richtig. Sie konnte nicht mehr allein bleiben, was vorher nie ein Problem war, sie legte meine Wohnung in Schutt und Asche. Sie zerfraß jede Woche ca. 5 Paar Schuhe, obwohl die weggesperrt waren. Es war unmöglich, Zugang zu ihr zu finden oder sie bei ihrem Tun aufzuhalten. Sie machte einen total durchgeknallten Eindruck auf mich.
Ich erinnere mich noch gut an den Abend, als ich heulend auf dem Bett saß, weil sie innerhalb von 2 Wochen zum zweiten Mal die Matratzen und die Bettwäsche total zerfetzt hatte, obwohl ich da war. Sie ließ sich durch nichts davon abhalten. Das war der Moment, wo ich mir eingestehen musste, dass ich so nicht weiter kam und so auf Dauer auch nicht leben wollte. Abgesehen davon war es auch ganz schön teuer, immer wieder Dinge zu ersetzen. Der Teppichboden war an verschiedenen Stellen aufgekratzt, der Schlafzimmerschrank war angenagt, die Couch aufgekratzt, der Tisch angefressen und in der Küche war nicht ein Griff der Schranktüren und Schubladen heil. Meine Schallplatten waren angenagt und eine Menge Bücher konnte ich nur noch wegwerfen. Irgendwie brach mein Leben auseinander und ich war hilflos und konnte nur zusehen, wie alles um mich herum systematisch zerstört wurde.
Viele Gespräche mit einer Freundin, die immer Secondhand-Hunde aus dem Tierschutz hatte, halfen ein wenig und schubsten mein Denken in eine andere Richtung. Zumindest tat es mir gut, dass ich mit jemandem offen über die Probleme, die ich mit diesem Hund hatte, reden konnte, ohne dass mein Tun in Frage gestellt wurde und ich mich nicht rechtfertigen musste. Ich traute mich gar nicht, z.B. meiner Mutter alles zu erzählen, weil sie dann sicher an meiner geistigen Gesundheit gezweifelt hätte. Es setzte mir zu, von außenstehenden Menschen zu hören: Warum tust Du Dir ausgerechnet diesen Hund an? Tja, warum nur? Ganz einfach: Wer würde denn so ein gestörtes Tier wollen und wie käme der Hund damit klar? Thamara war durch dieses Weglaufen regelrecht traumatisiert. Die Leute, die ich um Hilfe bat, sagten mir, ich müsse einfach konsequent sein. So ein Galgo würde seinem Halter nur zu gerne auf der Nase rumtanzen. Das half mir und dem Hund nicht wirklich.
Der Durchbruch kam, als ich mich um professionelle Hilfe bemühte. Ich muss gestehen, es fiel mir nicht leicht – schließlich hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben mit einem Hund Probleme gehabt, die ich nicht selber lösen konnte. Uns wurde erst mal eine Bachblüten-Therapie verordnet und ein speziell auf den Hund zugeschnittenes Trainingsprogramm. Erste Erfolge waren innerhalb von 2 Wochen sichtbar. Ich konnte wirklich mal wieder eine Zigarette zu Ende rauchen und ich konnte sogar baden oder duschen gehen – daran war vorher gar nicht zu denken, zumindest nicht, ohne dass hinterher wieder etwas kaputt war.
Thamara lebt heute seit 2 ½ Jahren bei mir und entwickelt sich langsam aber stetig immer weiter. Sie lässt sich immer noch nicht von anderen Menschen anfassen und reagiert mit großer Unruhe, wenn sie auch nur angesehen wird, aber letzte Woche hat sie sich das erste Mal über Besuch gefreut – auch wenn sie sich deswegen noch lange nicht anfassen lässt. Ich kann problemlos alles mit ihr machen – andere Menschen haben bis jetzt absolut keine Chance dazu.
Seitdem der ganze Druck weg ist, geht alles viel einfacher. Der Druck verschwand, als ich mir sagte, wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, kann ich damit leben und bin zufrieden. Es muss nicht perfekt sein. Seit diesem Zeitpunkt ist alles viel entspannter und Thamara überrascht mich immer wieder mit den Fortschritten, die sie macht. Ich habe mich für das Zusammenleben mit ihr entschieden, weil alles andere sie weit zurückwerfen würde und es nicht sicher ist, dass sie sich wieder fangen könnte. Ich liebe diesen Hund und jeder Millimeter, den wir weiterkommen, macht mich nicht nur stolz und glücklich – nein, es schweißt uns auch zusammen.
Ich weiß, Halter von „normalen“ Hunden können das nur schwer verstehen. Ich habe mit und durch diesen Hund viele Dinge gelernt – vor allem, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben und damit Druck hineinzubringen, andere Wege zu gehen und mich nicht mehr auf althergebrachte Erfahrungen zu verlassen. Es ist mühselig und sehr anstrengend – gleichzeitig aber auch unheimlich befriedigend und schön zu sehen, wie sich so ein Tier weiterentwickelt und seine Ängste nach und nach ablegt. Das Schönste ist, wenn wir Leute treffen, die sie längst abgeschrieben hatten und dann hören: Aber das ist nicht Thamara, oder? Doch, sie ist es. Und wie!
Sabina Riess